Doppelter Vertrieb" und "hybride Vermittler" sind wichtige Begriffe im Zusammenhang mit vertikalen Vereinbarungen und dem Kartellrecht.

Dualer Vertrieb liegt vor, wenn sich ein Unternehmen dafür entscheidet, seine Produkte sowohl direkt als auch über externe Händler zu vermarkten, wodurch eine Situation entsteht, in der es sogar mit letzteren in Wettbewerb treten kann. Dieses Phänomen erfordert eine sorgfältige Analyse der Marktdynamik, insbesondere im Hinblick auf den Informationsaustausch zwischen den beteiligten Parteien. Dies gilt insbesondere für den Online-Verkauf, bei dem mögliche Kartellrechtsverstöße unbedingt vermieden werden müssen.

Parallel dazu entstehen im Rahmen des Online-Handels hybride Vermittler, wenn eine Plattform gleichzeitig als Wiederverkäufer für die Produkte eines Anbieters und als Verkäufer der eigenen Artikel auftritt. In diesem Szenario entwickelt sich eine Dynamik des potenziellen Wettbewerbs zwischen den beiden Einheiten, da die Vermittler in diesem Zusammenhang ein Interesse daran haben können, ihren eigenen Absatz zu fördern, da sie auch die Möglichkeit haben, die Wettbewerbslandschaft unter den Unternehmen zu beeinflussen, die ihre Online-Vermittlungsdienste nutzen.

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1. Regulatorischer Kontext und rechtlicher Rahmen.

L'Artikel 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verbietet Vereinbarungen zwischen Unternehmen, die den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezwecken oder bewirken.

Artikel 101 Absatz 3 sieht jedoch eine Ausnahme von diesem Grundsatz vor: Vereinbarungen, die zwar den Wettbewerb beschränken, aber zur Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder zum technischen oder wirtschaftlichen Fortschritt beitragen, bleiben gültig, sofern ein angemessener Teil des entstehenden Gewinns den Verbrauchern vorbehalten ist.

Die Anwendung dieser Grundsätze auf vertikale Vereinbarungen, d. h. auf Verträge, die auf eine Beschränkung des Wettbewerbs abzielen, ist alles andere als einfach. Um Praktiker bei der komplexen Analyse der Einhaltung von Artikel 101 Absatz 3 AEUV zu unterstützen, hat die Europäische Kommission spezielle Verordnungen erlassen[1] - die letzte ist die Verordnung (EU) 2022/720). Mit diesen Regelungsdokumenten sollen die Grenzen klar abgesteckt werden, innerhalb derer vertikale Vereinbarungen zwar wettbewerbsbeschränkend sind, aber dennoch als rechtmäßig angesehen werden können, wobei sichergestellt werden muss, dass sie im Einklang mit Artikel 101 tatsächlich zur Verbesserung der Produktion und des Vertriebs von Erzeugnissen sowie zum technischen und wirtschaftlichen Fortschritt beitragen.

Vor diesem Hintergrund sieht Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung vor, dass vertikale Vereinbarungen vorbehaltlich bestimmter, in der Verordnung selbst aufgeführter Ausnahmen automatisch freigestellt sind. Diese Prämisse beruht auf der Annahme, dass solche Vereinbarungen in der Regel positive wirtschaftliche Auswirkungen haben, indem sie die Produktion oder den Vertrieb von Produkten optimieren und den technischen oder wirtschaftlichen Fortschritt fördern, wobei gleichzeitig sichergestellt wird, dass ein angemessener Teil des erzielten Nutzens an die Verbraucher weitergegeben wird.

Wie bereits in einem früheren Artikel dargelegt, gilt die Freistellung nach Artikel 3 der Verordnung generell für alle Vereinbarungen, bei denen sowohl der Anbieter als auch der Abnehmer die Schwelle von 30% an Anteilen auf dem relevanten Markt nicht überschreiten; daher gilt für alle vertikalen Vereinbarungen zwischen Unternehmen, die diese Schwellen nicht überschreiten, die Vermutung der Rechtmäßigkeit, sofern die Verträge keine Kernbeschränkungen enthalten (die so genannten Kernbeschränkungenin Artikel 4 der Verordnung). Dazu gehören in einem Alleinvertriebssystem im Wesentlichen das Verbot der Preisbindung beim Weiterverkauf an den Händler, das Verbot passiver Verkäufe außerhalb des Alleinvertriebsgebiets und des Kundenstamms sowie das kategorisches Verbot der Internetnutzung.

Es ist wichtig zu betonen, dass vertikale Vereinbarungen zwischen konkurrierenden Unternehmen, die nicht unter die automatische Freistellung fallen, nicht unter die Vermutung der Rechtswidrigkeit fallen. Sie sollten daher nicht ohne vorherige Prüfung ihrer Auswirkungen auf den Wettbewerb als mit dem Binnenmarkt unvereinbar und folglich als verboten angesehen werden. In der Praxis müssen sie einzeln geprüft werden, um festzustellen, ob sie mit Artikel 101 AEUV vereinbar sind.[2]

Lesen Sie auch: Marktanteil über 30% und Auswirkungen auf Vertriebsverträge.

 

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2. Vertikale Vereinbarungen zwischen konkurrierenden Unternehmen.

2.1. Wirksamer Wettbewerb und Doppelverteilung.

In diesem Zusammenhang schließt Artikel 2 Absatz 4 der Verordnung vertikale Vereinbarungen zwischen konkurrierenden Unternehmen von der Freistellung aus.

Die Verordnung unterstreicht jedoch die Notwendigkeit, wirksamen Wettbewerb im spezifischen Kontext der einzelnen vertikalen Vereinbarung zu untersuchen. Unter diesem Gesichtspunkt werden in Artikel 2 Absatz 4 Buchstaben a) und b) vertikale Vereinbarungen zwischen Einheiten freigestellt, die zwar auf horizontaler Ebene miteinander konkurrieren, aber nicht unmittelbar auf den Produktions- oder Vertriebsstufen, die von der betreffenden vertikalen Vereinbarung betroffen sind.

Die Freistellung soll für Verbindungen zwischen Unternehmen gelten, die zwar auf einer bestimmten Vertriebsstufe miteinander konkurrieren, nicht aber auf den Ebenen, für die die vertikale Vereinbarung konzipiert ist. Damit wird der Schwerpunkt auf die spezifischen Auswirkungen jeder Vereinbarung auf dem Markt gelegt, unabhängig vom Wettbewerb zwischen den Parteien auf anderen Vertriebsstufen.

Im Hinblick auf eine sorgfältige Analyse der tatsächlichen Wettbewerbssituation, unabhängig von der Rolle, die die Vertragsparteien auf dem Markt spielen, wird in den Erwägungsgründen 12 und 13 der Verordnung ein ergänzendes Prinzip eingeführt, das als "Doppelvertrieb" bezeichnet wird. Dieses Phänomen tritt auf, wenn der Anbieter Waren oder Dienstleistungen sowohl auf dem vorgelagerten als auch auf dem nachgelagerten Markt vertreibt und dabei mit seinen unabhängigen Händlern konkurriert.

Ein dualer Vertrieb liegt beispielsweise vor, wenn ein Schuhhersteller, der seine Produkte ursprünglich ausschließlich über Händler vertrieben hat, beschließt, direkt an Geschäfte zu verkaufen, und damit faktisch in Wettbewerb mit seinen Händlern tritt, die auf derselben Ebene der Vertriebskette tätig sind.

In einem solchen Fall wäre die vertikale Vereinbarung nicht automatisch freigestellt, da es sich um eine Beziehung zwischen konkurrierenden Parteien handeln würde.

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2.2. Der Informationsaustausch im dualen Vertrieb.

Im Rahmen des dualen Vertriebs ist der Online-Verkauf sicherlich ein Bereich, in dem die potenziellen Wettbewerbssituationen größer sind als auf den "traditionellen" Märkten. So ist der Fall keineswegs ungewöhnlich, dass der Hersteller den Verkauf über Händler mit dem direkten Online-Verkauf kombiniert, sei es über seine eigene Website oder beispielsweise über eine von ihm entwickelte Anwendung.

Obwohl sich der Hersteller nach Kräften um eine Harmonisierung der Vertriebskanäle bemüht, gelingt ihm dies nicht immer, und er kann in einen tatsächlichen oder potenziellen (siehe Abschnitt 4) Wettbewerb mit seinen Händlern geraten.

Unabhängig von den Bemühungen des Herstellers, die beiden Kanäle zu verwalten, kann ein Element von erheblicher praktischer Bedeutung sein, das durch Artikel 2 Absatz 5 der Verordnung eingeführt wird, der eine wichtige Beschränkung für den Informationsaustausch zwischen Lieferant und Käufer vorsieht.

Ausgehend von den Erwägungsgründen 12 und 13 sowie von Artikel 2 Absatz 4 sieht Artikel 2 Absatz 5 der Verordnung vor, dass bei Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern (unabhängig von den Umständen, die zu diesem Umstand geführt haben) der Austausch von Informationen zwischen Lieferanten und Abnehmern, der nicht unmittelbar mit der Durchführung der vertikalen Vereinbarung zusammenhängt oder der nicht unerlässlich ist, um die Produktion oder den Vertrieb der Vertragswaren oder -dienstleistungen zu optimieren, niemals freigestellt ist und daher potenziell gegen das Kartellrecht verstoßen kann.

Für die Auslegung von Artikel 2 Absatz 5 der Verordnung kann man die Leitlinien der Kommission.[3] Sie haben zwar keine bindende Wirkung, sind aber für die Entscheidungspraxis und die Auslegung der Vorschriften von entscheidender Bedeutung.

Insbesondere die Absätze 99 und 100 enthalten Beispiele für Informationen, die die Anforderungen von Artikel 2 Absatz 5 erfüllen oder nicht erfüllen können, und zeigen damit auf, welche Informationen aus kartellrechtlicher Sicht zulässig und welche nicht zulässig sind.

Die Punkt 99 listet Informationen auf, die ihrer Art nach unmittelbar mit der Durchführung der vertikalen Vereinbarung zusammenhängen und zur Verbesserung der Produktion oder des Vertriebs erforderlich sind. Dazu gehören:

  • Technische Informationendie sich auf die vertragsgegenständlichen Waren oder Dienstleistungen beziehen und für die Einhaltung von Rechtsvorschriften und die Anpassung der Waren oder Dienstleistungen an die Bedürfnisse des Kunden erforderlich sind.
  • Logistische Informationenim Zusammenhang mit der Produktion und dem Vertrieb von Waren oder Dienstleistungen auf vor- oder nachgelagerten Märkten.
  • Informationen für Kundenüber die Käufe, Vorlieben und Reaktionen der Kunden, sofern sie das Gebiet oder die Kunden, an die der Käufer verkaufen darf, nicht einschränken.
  • Informationen über Verkaufspreise: Kosten, die der Lieferant/Hersteller dem Käufer für die Vertragswaren oder -dienstleistungen in Rechnung stellt.
  • Informationen über Wiederverkaufspreise: über empfohlene oder maximale Weiterverkaufspreise und die Preise, zu denen der Käufer die Waren oder Dienstleistungen weiterverkauft, sofern sie die Möglichkeit des Käufers, seinen eigenen Verkaufspreis zu bestimmen, nicht einschränken.
  • Marketing-Informationendie sich auf die Vermarktung der Waren oder Dienstleistungen beziehen, die Gegenstand des Vertrags sind.
  • Informationen über die Ergebnissedie sich auf die Marketing- und Verkaufsaktivitäten anderer Abnehmer der Vertragswaren oder -dienstleistungen beziehen.

Die Punkt 100 listet Informationen auf, die diese Bedingungen im Allgemeinen nicht erfüllen dürften. Nämlich:

  • Informationen über künftige Preiseüber die künftigen Preise, zu denen der Anbieter oder Abnehmer die Waren oder Dienstleistungen auf dem nachgelagerten Markt verkaufen will.
  • Informationen über ermittelte Endnutzeres sei denn, sie sind erforderlich, um die Anforderungen eines bestimmten Endverbrauchers zu erfüllen oder um die Einhaltung einer selektiven oder exklusiven Vertriebsvereinbarung umzusetzen oder zu überwachen.
  • Informationen über von einem Käufer verkaufte Eigenmarkenwarenzwischen dem Käufer und einem Hersteller von konkurrierenden Markenartikeln ausgetauscht werden, es sei denn, der Hersteller ist auch Produzent dieser Eigenmarkenartikel.

Die oben genannten Punkte sollten von Praktikern als Hilfsmittel verwendet werden, um die Grenzen zu verstehen, innerhalb derer ein Informationsaustausch stattfinden kann, ohne dass es zu Kartellrechtsverstößen im Zusammenhang mit vertikalen Vereinbarungen zwischen sogar potenziell konkurrierenden Parteien kommt.

Auch wenn die von der Kommission vorgelegten Illustrationen dem Auftragnehmer, der die Anforderungen von Artikel 2 Absatz 5 erfüllen will, teilweise eine nützliche Orientierungshilfe bieten können, muss die Unterscheidung zwischen Informationen, die weitergegeben werden dürfen, und Informationen, die nicht weitergegeben werden dürfen, von Fall zu Fall beurteilt werden. Grundsätzlich kann man sagen, dass es sich bei letzteren um Daten handelt, die, sobald sie weitergegeben werden, einer Partei, die möglicherweise mit ihrem Auftragnehmer konkurriert, die Möglichkeit geben, den Markt zu durchdringen, indem sie einen Wettbewerbsvorteil nutzen, der nicht mit den europäischen Wettbewerbsgrundsätzen in Einklang steht.

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3. Online-Vermittler, die eine Mischfunktion ausüben.

 

Ein weiterer Aspekt, der im Zusammenhang mit dem Wettbewerb zwischen Akteuren, die auf verschiedenen Marktebenen tätig sind, untersucht wurde und sich speziell auf den Online-Verkauf bezieht, betrifft die vertikalen Beziehungen zu Online-Vermittlungsdienstleistern.

Konkret geht es um die Dynamik zwischen einem Anbieter und einem Vermittler von Online-Diensten, d. h. einer Plattform, die den Verkauf von Produkten oder Dienstleistungen erleichtert.

In diesen Beziehungen, die als vertikale Vereinbarungen eingestuft werden, da die Plattform als Vermittler der Produkte des Herstellers fungiert, heißt es in Artikel 2 Absatz 6 der Verordnung:

"die Freistellungen in Absatz 4 Buchstaben a) und b) gelten nicht für vertikale Vereinbarungen über die Erbringung von Online-Vermittlungsdienstleistungen, wenn der Erbringer dieser Dienstleistungen ein Unternehmen ist, das auf dem relevanten Markt für den Verkauf der vermittelten Waren oder Dienstleistungen im Wettbewerb steht."

Im Wesentlichen wird in den Rechtsvorschriften eine Situation beschrieben, in der eine Online-Plattform eine so genannte "Hybridfunktion" ausübt,[4] indem er sowohl als Vermittler für die Verkäufe des Lieferanten auftritt als auch den Verkauf seiner eigenen Produkte oder Dienstleistungen fördert, die mit den vermittelten Produkten im Wettbewerb stehen. In diesem Zusammenhang sind die in Artikel 2 Absatz 4 Buchstaben a und b der Verordnung vorgesehenen Ausnahmen nicht anwendbar, da man sich in einer Situation befindet, in der Vermittler ein Interesse an der Förderung ihrer eigenen Verkäufe sowie die Möglichkeit haben können, das Ergebnis des Wettbewerbs zwischen Unternehmen, die ihre Online-Vermittlungsdienste nutzen, zu beeinflussen.[5]

Auch wenn der zitierte Gesetzestext nicht einfach zu lesen ist, können wir versuchen, ihn zu vereinfachen, ohne ihn zu bagatellisieren, indem wir noch einmal betonen, dass es wichtig ist, das tatsächliche Wettbewerbsverhältnis zwischen den Vertragsparteien zu untersuchen. Insbesondere wenn der Online-Vermittler nicht nur die Rolle eines Vermittlers, sondern auch die eines potenziellen Wettbewerbers auf derselben Plattform spielt, die er als Raum für den Verkauf der Produkte der Vertragsparteien zur Verfügung stellt, befinden wir uns eindeutig in einer Situation des wirksamen Wettbewerbs zwischen Subjekten, die auf derselben Vertriebsebene tätig sind, und somit in einer Beziehung, die nicht von der fraglichen Verordnung ausgenommen ist.

Wie im folgenden Abschnitt näher untersucht wird, muss sich beim hybriden Vermittlungsgeschäft (analog zum dualen Vertrieb) der Wettbewerb durch die Plattform nicht zwangsläufig wirksam manifestieren; es genügt bereits ein potenziell spürbarer Wettbewerb. In diesem Sinne reicht es aus, wenn der Anbieter der Online-Vermittlungsdienste innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums (in der Regel nicht mehr als ein Jahr) die erforderlichen zusätzlichen Investitionen tätigt oder andere unerlässliche Kosten auf sich nimmt, um Zugang zu dem relevanten Markt für den Verkauf der vermittelten Waren oder Dienstleistungen zu erhalten.[6]

Es muss betont werden, dass die Anwendung von Artikel 2 Absatz 6 der Verordnung (EU) Nr. 2022/720 voraussetzt, dass die vertikale Vereinbarung, die der Anbieter eines Online-Vermittlungsdienstes mit hybrider Funktion geschlossen hat, nicht als Handelsvertretervertrag eingestuft werden kann, der nicht in den Anwendungsbereich von Artikel 101 fällt.[7]

Lesen Sie auch: Aber sind Online-Plattformen Handelsvertreter?

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4. Risiken im Zusammenhang mit potenziellem Wettbewerb.

Es ist wichtig zu betonen, dass der Wettbewerb nicht notwendigerweise tatsächlich sein muss, sondern dass es ausreicht, wenn er auch nur potenziell ist. In Artikel 1 Buchstabe c der Verordnung wird ein "konkurrierendes Unternehmen" als eine Einheit definiert, die sowohl tatsächlich als auch potenziell im Wettbewerb steht. Ein tatsächlicher Wettbewerber ist ein Unternehmen, das auf demselben relevanten Markt tätig ist, während ein potenzieller Wettbewerber ein Unternehmen ist, das ohne die vertikale Vereinbarung realistischerweise die Möglichkeit hätte, innerhalb eines kurzen Zeitraums in den relevanten Markt einzutreten und die erforderlichen Investitionen und Kosten zu tätigen.

In den Leitlinien wird diese Definition weiter abgelehnt.[8] Sie betonen, dass die Bewertung des potenziellen Wettbewerbs auf realistischen Erwägungen beruhen muss, wobei die Marktstruktur sowie das wirtschaftliche und rechtliche Umfeld zu berücksichtigen sind. Eine rein theoretische Möglichkeit, in einen Markt einzutreten, reicht nicht aus; es muss eine reale und konkrete Möglichkeit bestehen, ohne dass unüberwindbare Hindernisse für den Markteintritt bestehen. In jedem Fall muss nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden, dass das Unternehmen tatsächlich in den relevanten Markt eintreten und seine Stellung behaupten wird.

Um zu beurteilen, ob ein Unternehmen, das nicht auf einem Markt vertreten ist, in potenziellem Wettbewerb mit den auf diesem Markt vertretenen Unternehmen steht, muss geprüft werden, ob es für dieses Unternehmen reale und konkrete Möglichkeiten gibt, sich in den Markt zu integrieren und mit den anderen Unternehmen in Wettbewerb zu treten. Dieses Kriterium schließt die Möglichkeit aus, einen potenziellen Wettbewerb aufgrund von bloßen Annahmen oder Absichten festzustellen, die nicht durch konkrete vorbereitende Maßnahmen gestützt werden.[9]

Die Beurteilung des Vorhandenseins von potenziellem Wettbewerb muss vor dem Hintergrund der Marktstruktur und des wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmens für das Funktionieren des Marktes erfolgen. Die Bewertung des potenziellen Wettbewerbs erfordert eine sorgfältige Untersuchung der Struktur und des Kontextes des Marktes unter Berücksichtigung verschiedener Schlüsselfaktoren und der operativen Dynamik. Im Folgenden werden einige wichtige Bereiche und Punkte aufgeführt, die bei einer solchen Prüfung zu untersuchen sind:

  • Marktstruktur und Kontext: Die erste Phase der Bewertung umfasst eine sorgfältige Analyse des Marktes und seiner Funktionsweise, wobei nicht nur die derzeitige Verteilung der Unternehmen und ihr Marktanteil, sondern auch die vorherrschende Dynamik, die Trends und die Geschäftsmodelle beobachtet werden.
  • Regulatorische Beschränkungen und geistiges Eigentum: Das Vorhandensein von regulatorischen Hindernissen und geistigen Eigentumsrechten wie Patenten und Warenzeichen muss sorgfältig geprüft werden, da sie Marktzutrittsschranken schaffen oder die Fähigkeit neuer Marktteilnehmer beeinträchtigen können, auf dem Markt wirksam zu konkurrieren. In der Tat kann geistiges Eigentum den Zugang zu wichtigen Technologien oder Wissen einschränken und damit die Wettbewerbsdynamik verändern.
  • Entschlossenheit und Fähigkeit zum Markteintritt: Die Bewertung muss sich auf die Bereitschaft und die Fähigkeit des Unternehmens erstrecken, den Markt zu durchdringen. Dazu gehört die Analyse der Ressourcen, Fähigkeiten und Strategien, die das Unternehmen für den Markteintritt mobilisieren kann, sowie seine Entschlossenheit, etwaige Hindernisse zu überwinden. Die strategischen Entscheidungen, Investitionen und Vermögenswerte des Unternehmens sind daher für die Bewertung der potenziellen Auswirkungen auf den Wettbewerb von entscheidender Bedeutung.
  • Vorbereitende Maßnahmen und Einstiegsstrategien: ist es auch wichtig zu beobachten, welche konkreten Schritte das Unternehmen unternommen hat, um sich auf den Markteintritt vorzubereiten. Dazu könnten die Entwicklung oder der Kauf von Produkten, die Beantragung einschlägiger Zertifizierungen oder Genehmigungen und die Entwicklung von Marketing- und Vertriebsplänen gehören. Eine detaillierte Analyse der geplanten oder bereits laufenden Initiativen und Maßnahmen kann Aufschluss über die tatsächlichen Absichten und Fähigkeiten des Unternehmens geben.
  • Zusätzliche Elemente, die das Wettbewerbspotenzial untermauern: Andere Faktoren können zusätzliche Anhaltspunkte dafür liefern, dass ein Unternehmen entschlossen ist, im Wettbewerb zu bestehen. So kann der Abschluss von Vereinbarungen mit anderen Unternehmen, insbesondere wenn diese zuvor nicht auf dem betreffenden Markt tätig waren, ein Hinweis auf die Durchführbarkeit ihrer Absichten und ihr Potenzial für einen wirksamen Wettbewerb sein.

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5. Geldbußen, Sanktionen und verfahrensrechtliche Initiativen

Verstöße gegen das Kartellrecht können nicht nur von der Kommission und der nationalen Kartellbehörde von sich aus oder auf Empfehlung Dritter festgestellt werden, sondern können auch von der anderen Vertragspartei oder von Dritten, die sich durch wettbewerbswidriges Verhalten geschädigt fühlen, bei den ordentlichen Gerichten geltend gemacht werden.

Was die Geldbußen betrifft, so hat die Kommission einen erheblichen Schwellenwert von bis zu 10% des Jahresumsatzes Gesamtbetrag, den das mit der Geldbuße belegte Unternehmen im letzten Geschäftsjahr erzielt hat. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Geldbuße "eine hinreichend abschreckende Wirkung haben muss, um nicht nur die betroffenen Unternehmen zu bestrafen (spezifische Abschreckungswirkung), sondern auch andere Unternehmen davon abzuhalten, ein gegen die Artikel 101 und 102 verstoßendes Verhalten an den Tag zu legen oder fortzusetzen".[10]

Ähnlich verhält es sich mit den nationalen Rechtsvorschriften[11] verleiht der Behörde die Befugnis, bei besonders schwerwiegenden rechtswidrigen Handlungen finanzielle Sanktionen zu verhängen, die "nicht den Charakter einer zivilrechtlichen Vermögensmaßnahme (...), sondern den einer verwaltungsrechtlichen Sanktion mit Strafcharakter (ähnlich dem einer strafrechtlichen Sanktion)" haben.[12]

Zu den Verfahrensschritten, die von der anderen Vertragspartei oder von Dritten eingeleitet werden können, gehören die Feststellung einer Vertragsverletzung, die Erklärung der Nichtigkeit des Vertragsverhältnisses, Schadensersatzklagen und der Erlass von Vorsichtsmaßnahmen. In diesen Fällen gibt es keine im Voraus festgelegten Obergrenzen für die Entschädigung; vielmehr wird die Höhe des Schadensersatzes von Fall zu Fall nach den allgemeinen Entschädigungsgrundsätzen des auf die jeweilige Situation anwendbaren Rechts bestimmt.

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[1] Verordnung (EU) 2022/720; Verordnung (EG) Nr. 330/2010: Verordnung (EG) Nr. 2790/1999.

[2] Punkt (48) und (91) der Leitlinien für vertikale Beschränkungen.

[3] Leitlinien für vertikale Beschränkungen (2022/C 248/01).

[4] Punkt (104) der Leitlinien.

[5] Randnummer (105) des Gemeinschaftsrahmens.

[6] Randnummer (106) des Gemeinschaftsrahmens.

[7] Punkt (72) Leitlinien der Kommission.

[8] Punkt (90) der Leitlinien.

[9] Urteile vom 30. Januar 2020, Generika (UK) und andere/Behörde für Wettbewerb und MärkteRechtssache C-307/18, EU:C:2020:52, Randnrn. 36-45;

[10] Siehe Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003.

[11] (Art. 15 Gesetz 287/1990).

[12] Staatsrat, Urteil Nr. 1671 von 2001.